[ Pobierz całość w formacie PDF ]

Hanna schenkte den dritten Kirschlikör ein. Sie gewöhnte sich
schon fast daran. Der Kuckuck fuhr aus seinem Gehäuse, sperrte
den Schnabel auf, zeigte seine spitze rote Zunge und kuckuckte
zehnmal.
Kürtchen trank einen winzigen Schluck und fuhr sich mit der
Zunge über die Lippen. »Als die Karla an Weihnachten nach
Haus gekommen ist, hat man gesehen, dass sie schwanger war.
Aber sie hat net rausgelassen, wer der Vater war. Der Arthur
war entsetzt. Er war schon immer sehr moralisch gewesen, auch
wenn er mit vielen Mädchen so ein bisschen rumgetändelt hat.
Das war ja wahrscheinlich auch der Grund, warum er die Elfi
geheiratet hat. Aber dass sie ihm, ihrem Bruder, den Namen von
dem Kindsvater net verraten hat, des hat ihn vollends rasend
gemacht. Wahrscheinlich ist da viel zusammengekommen.
Jedenfalls hat s einen entsetzlichen Krach gegeben, unterm
Weihnachtsbaum. Ich stand im Gang und hab jedes Wort gehört,
so laut haben sie gestritten. Es war das erste Mal, dass die zwei
einen richtigen echten Streit gehabt haben. Irgendwann schrie
der Arthur, wenn sie so wenig Vertrauen zu ihm hätt, bräucht sie
auch nimmer in sein Haus zu kommen. Dann war es plötzlich
ganz still im Zimmer, und dann hat die Karla gesagt: : In dein
Haus?9 Und dann hat sie die Tür aufgemacht und ganz leise und
kalt gesagt: : Keine Sorge, ich werde dein Haus nicht mehr
betreten.9 Und ich hab durch die Tür die brennenden Kerzen
gesehen und der Elfi ihr zufriedenes Gesicht und meinen Arthur
bleich und betrunken. Die Karla hat noch in derselben Nacht
ihre Sachen gepackt und ist fort. Sie war so ein entsetzlicher
Dickkopf, da konnt ich sagen, was ich wollt. Sie kam nie mehr
nach Haus.«
83
Hanna rieb sich den Nacken und nippte an ihrem Kirschlikör.
Was für eine dramatische Geschichte, die so sehr der modernen
Angst vor großen Gefühlen widersprach! Aber Kürtchen
erzählte mit so viel Betroffenheit, dass Hanna heftig schlucken
musste und vorsichtshalber schnell noch einen Kirschlikör trank.
Kürtchen schloss die Augen und lehnte den Kopf zurück.
»Entschuldigen Sie bitte, ich bin sehr müde. Ich hab letzte
Nacht fast net geschlafen, weil mein Fuß so wehgetan hat. Ich
mach Ihnen einen Vorschlag. Ich hab die Briefe aufgehoben, die
die Karla mir geschrieben hat, nachdem sie weggegangen war.
Ich denke & Sie sind ein liebes Mädchen, und es ist ja schon
egal, wo die Karla doch jetzt auch tot ist und niemand mehr &
Ich kann die Geschichte auch net & Es ist schwer. Nehmen Sie
die Briefe mit. Machen Sie mal dort die oberste Schublade von
der Kommode auf. Aber bitte seien Sie vorsichtig mit den
Briefen, sie sind mir sehr wichtig.«
Hanna versprach, sie zu hüten wie ihren Augapfel, versprach
auch, ihre Tante herzlich zu grüßen. Dann umarmte sie Kürtchen
spontan. »Danke für den wunderbaren Abend. Darf ich
irgendwann wiederkommen und Kirschlikör trinken?«
84
11
Elfi kam auf sie zugeschwebt, in einem blauen Samtkleid in der
Farbe ihrer Augen, blau, blau wie ein Emailletopf. Die
schwarzen Haare trug sie als Krone um den Kopf. Einzelne
Strähnen lösten sich und fielen über ihre Schultern, dann floss
die ganze schwarze Haarflut herunter bis auf ihre Füße. Die
Haut an ihrem Hals klappte auf und flatterte Stückchen für
Stückchen davon. Elfi wurde immer durchsichtiger, bis nur noch
die Knochen vorhanden waren. Doch aus dem kahlen Schädel
sahen diese unwahrscheinlich blauen Augen sie weiterhin an,
fordernd und traurig.
Hanna wachte langsam auf. Im Fenster stand grau ein Himmel,
der noch nicht wusste, wie sich das Wetter entscheiden würde.
Da waren noch immer diese Augen, vor dem Himmel, diese
fordernden blauen Augen. Gegen ihren Willen wuchs in Hanna
Mitleid mit diesem »Flüchtlingskind«, das sich mit seiner
Schönheit einen Platz erkauft hatte, der zu einer einsamen Insel
wurde.
Flüchtlingskinder. Hannas Mutter hatte ein paar kleine Skizzen
geschrieben, die sie ihr einmal zu Weihnachten geschenkt hatte
 Erinnerungen aus ihrer Jugend in Bamberg  und die Hanna in
ihrer Nachttischschublade aufbewahrte. Das dritte Blatt war
dasjenige, das sie suchte.
In der sorgfältigen Handschrift ihrer Mutter stand unter der
Überschrift »Baracker«: »: Ich will nicht, dass du mit diesen
Barackern spielst. Oder möchtest du Läuse bekommen?9 , hatte
Mutti gesagt. Auf dem großen, leicht vertieften Gelände, wo
später in den sechziger Jahren das Arbeitsamt und die
Berufsschule gebaut wurden, hatte man nach dem Krieg
Baracken-Unterkünfte für die Flüchtlinge errichtet. Dorthin zum
Spielen zu gehen hatte für mich den Reiz des Abenteuers. Nicht
85
nur, weil meine Eltern es mir verboten hatten. Es war so etwas
wie das Anlegen an einer fremden Insel, wenn du nicht weißt,
ob dich die wilden Einwohner anbeten oder auffressen werden.
Würde ich beim Murmelspiel mitmachen dürfen, weil ich ihnen
die Chance gab, mir nicht nur die tönernen, bunt bemalten
Tatzer, sondern auch zwei oder drei von den schillernden oder
milchigen Glaskugeln abzugewinnen? Oder würden sie mit
Steinen werfen nach mir, dem sauberen, brav angezogenen Kind
aus einem der feinen Häuser vorn am Kunigundendamm? Die
Frage stellte sich jedes Mal neu, und die kurze
Gabelsbergerstraße zwischen dem Kunigundendamm und dem
Barackengelände hat viele halbe und ganze Fluchten,
Herzklopfen und abgebissene Fingernägel gesehen. Gott sei
Dank gab es aber auch so etwas wie einen offiziellen Grund, zu
den Barackern zu gehen. In einem der Schuppen hatte jemand
einen Rollerverleih aufgemacht. Fünf Pfennig für ein hölzernes
Radelrutsch, das an jedem Stein hängen blieb, zwanzig Pfennig
für einen Metallroller mit luftgefüllten Gummireifen, der einen
wolkenweich davontrug und mit dem man mit ein- oder zweimal
Antreten die halbe Gabelsbergerstraße entlangrollte. Die Jungs
fragten schon mal mit ihrer komischen Aussprache: : Darf ich
auch mal rollen?9 , aber die Mädchen standen in ihren geblümten
Schürzen neben den Barackentüren und sahen nur zu.«
Hier brach der Text ab. Hanna legte ihn sorgsam in die
Schublade zurück und griff nach der Schachtel mit Briefen, die
Kürtchen ihr am Abend zuvor anvertraut hatte. Es war eine
große, silbrig glänzende Metalldose, die einst Nürnberger
Lebkuchen enthalten hatte, mit geprägten Verzierungen und
dem Bild einer Postkutsche auf dem Deckel. Die Schachtel war
randvoll mit jahrgangsweise gebündelten Briefen, Päckchen für
Päckchen umwunden mit roter Schnur. Hanna suchte nach dem
ältesten Jahrgang, wickelte sorgsam die Schnur ab und faltete
den ersten Brief auf. Karlas Handschrift war klar und groß und
verhältnismäßig leicht zu lesen.
86
»Liebes Kürtchen, bitte verzeih mir, dass ich neulich in aller
Herrgottsfrüh verschwunden bin, ohne mich von Dir zu
verabschieden. Ich konnte mit niemandem reden, mit
niemandem! Ich war so voller Zorn und Unglück. Wie konnte er
das sagen, : sein9 Haus? Es war doch immer unser Haus. Und
wenn er es dreimal geerbt hat  es ist doch unser Zuhause, unser
Elternhaus gewesen. Gewesen  siehst Du, jetzt schreibe ich es
schon selbst. Etwas ist kaputtgegangen, ist wohl für immer
Vergangenheit. Aber ich bin noch nicht fertig damit, es tut
immer noch so teuflisch weh. Arthur ist ein alter Traumtänzer.
Wie kann er nur glauben, dass Elfi und ich : Schwestern9 sein
könnten oder Freundinnen! Pah! Es gibt kaum jemanden, bei
dem ich mir das so wenig vorstellen kann wie bei ihr! Ich werde
ihr nie verzeihen, dass sie ihn mir weggenommen hat, um ihn in
einen solchen Hampelmann mit Sonnenbrille und Porsche zu
verwandeln. Sie kennt Arthur doch gar nicht. Warum nur,
warum hat er sie geheiratet? Ich versteh s nicht und versteh s
nicht. Ich sitze halbe Tage hier herum und heule. Ich hoffe, Dir
geht es gut. Deine Karla.«
Im April kam Karlas Kind in einer Münchner Klinik zur Welt.
Es war ein Junge. Sie nannte ihn Arthur. Er starb nach drei
Wochen. Karla litt sehr. Kürtchen war offenbar zu ihr gefahren
und eine Weile bei ihr geblieben, wofür Karla sich mehrfach
bedankte. Aber ihre Sehnsucht nach Arthur blieb quälend
lebendig; das wurde in jedem einzelnen Brief der folgenden
Jahre deutlich. Es dauerte lange, bis sie wusste, wieso; bis sie [ Pobierz całość w formacie PDF ]

  • zanotowane.pl
  • doc.pisz.pl
  • pdf.pisz.pl
  • annablack.xlx.pl
  •